Nyksund-Projekt

Hier können Sie zwei "Berichte" lesen". Beide Male handelt es sch um Auszüge aus Büchern, eines erschien im Jahr 1992, das andere im Jahr 2010.  


Das Abseits und das Gewöhnliche. Nyksund als Chance der Verfremdung

von Gunther Soukup in C. Wolfgang Müller und Winfried Ripp (Hrsg.),
„Tropfen auf dem heißen Stein. 25 Jahre Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin, Beltz Verlag, Weinheim 1992, S. 192 ff.



Nyksund 1997 (Foto: Erhard Mey)

„Am 27.10.1990 fand in der TU Berlin eine Präsentation des Nyksund-Projekts statt. Dabei kam es den Veranstaltern auf eine mehrseitige Widerspiegelung des nunmehr sechs Jahre währenden sozialen und pädagogischen Experiments Nyksund an. Der folgende Text enthält einen Ausschnitt der vorgetragenen Beiträge und Sichtweisen.

Es begab sich also zu der Zeit, daß Berliner Studenten die zum Zwecke der Spekulation leerstehenden Häuser besetzten und wieder bewohnbar machten. Sie nannten dies "Instandbesetzung". Für viele von ihnen war dies die erste Chance, sich als produktiv und gestaltend zu erleben.

Es begab sich aber zu der Zeit, daß eine neue Stadtregierung solche Art von vernünftigem Tun mit Gewalt beendete. So kam es, daß viele Studenten die neuerworbenen Kenntnisse anderswo anzuwenden suchten, und sei es im Abseits des hohen Nordens.

Am Anfang stand ein Zufall, kein pädagogisches Kalkül. Einer hört, wie ein anderer von einem Dia schwärmt, das er irgendwo gesehen hat. Das Bild zeigt eine halb verfallene Goldgräberstadt, ein aufgegebenes Fischerdorf am Rande der Zeit. Auch der Name des Ortes war vorhanden. Eine Nachricht wie diese mußte alle elektrisieren, die nach "herrenlosem" Territorium Ausschau hielten. So kam es zu einer ersten Anfrage an den zuständigen nordnorwegischen Bürgermeister...

1985 fand die erste studentische Erkundungstour über Ost- u Nordschweden nach Nyksund statt. Dieser Start brachte eine Interessenkonstellation zustande, die in sich konflikthaltig, im ganzen aber mit positiven Effekten die folgenden Jahre bestimmte. Die Selbstverwirklichungsinteressen der Studenten, auch ihre Fluchttendenzen aus Umweltzerstörung Kriegsgefahr, mußten auf ein Refugium, eine teils private, teils kleingenossenschaftliche Idylle im Abseits gerichtet sein. Sie nahmen die Bedingung für die Beteiligung der Uni – das es eine berufsbezogene, also sozialpädagogische Arbeit mit einer Zielgruppe als reguläres Theorie-Praxis-Seminar sein müsse – notgedrungen in Kauf. Was wie freiwillige Bejahung erschien, war für die meisten von ihnen über längere Zeiträume eine oktroyierte Zumutung.

Dennoch kam das Projekt in Gang. Ohne Geld, aber mit einer relativ klaren Zielbeschreibung der Seminarleitung, der damals nicht widersprochen wurde: "Es ist ein doppeltes Ziel: Es besteht in dem Gewinn an Lebenssinn durch einsehbar nützliche Tätigkeit für alle Beteiligten während der Aufbauphase. Gerade Jugendlichen, denen die Chance gestohlen wurde, eine Berufsperspektive aufzubauen, brauchen die reale Erfahrung ihrer eigenen Wirksamkeit und Nützlichkeit. Viele müssen durch die Nötigungen der Wirklichkeit aus ihrer Erstarrung und Lethargie herausgeholt werden. Aber auch für die beteiligten Sozialpädagogen ergeben sich enorme Chancen, ihre Nützlichkeit für andere zu vergrößern. Man weiß: Allzu viele Sozialpädagogen können außer Gesprächen und Hinweisen wenig praktische Hilfen und Angebote machen. Die Arbeit in Nyksund wird dazu beitragen, den Handlungsradius zu erweitern: Neben der Erweiterung der handwerklichen Fähigkeiten führt die Aufgabe Nyksund auch zum Aufbau sozialer und organisatorischer Kompetenz; gilt es doch, ein Gemeinwesen auf Zeit zu gestalten und die dabei notwendig auftretenden Interessen- und anderen Konflikten so zu wenden, daß das Ergebnis allen Nutzen bringt…



 

Into the Wild. Nyksund – 68 Grad Norden – Die Pioniere
Die Leseprobe (S. 98 f.) ist dem Buch von Matthias Hannemann, Der Neue Norden. Die Arktis und der Traum vom Aufbruch, Scoventa Verlag, Bad Vilbel 2010, 217 Sei-ten, EUR 19,90, entnommen.



Es war jetzt fast Mitternacht. Wir standen im Freien. Der Wind blies uns durch die Haare, und ich blickte mich um: Tatsächlich, das war keine Geisterstadt mehr. Nyksund lebte. Das letzte Haus am Kai war eingerüstet, um ein Museum zu werden. Im Haus daneben brannte Licht. Und in der Ferne, am Ufer von Langoya, waren die Scheinwerfer eines Wagens zu sehen, der sich an den Felsen entlang von Myre auf Nyksund zubewegte. »Mensch, Matthias, Du schaust in die falsche Richtung!«, Ssemjons Freundin zeigte in den Himmel, hoch über das letzte Haus am Felsen, in dem Licht brannte, und sie schickte Ssemjon, um endlich zu holen, was er bei aller Erzählerei zu holen vergaß: den neuen Fotoapparat. Als er zurückkam, war das grüne Schauspiel schon voll im Gange, so als hätte der große Regisseur die Taste für die Spezialeffekte gefunden. Grandios. Guovssahat nannten die Sami das Nordlicht. Das Licht, das man hören kann. Das war falsch. Aber immerhin, es war poetischer, beim Anblick des grünblau vor sich hin wabernden Nordlichts an die Träume und Welten der Ureinwohner zu denken als an den norwegischen Physiker Kristian Birkeland. Der hatte das Nordlicht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts am Polarkreis studiert und in eine Maschine sperren wollen...